Cyberpunk 2077: Kronjuwel oder Schande des Genres?
Wie es scheint, haben wir die erste Jahreshälfte apokalypsenfrei hinter uns gebracht. Es ist wohl an der Zeit, dass wir uns dem überfälligen Thema zuwenden. Nein, ich rede nicht von mir selbst. Gegenstand dieser Analyse wird etwas sein, das auf den ersten Blick keine wirklichen Überschneidungspunkte mit unseren Stammesaktivitäten hat: ein Videospiel namens Cyberpunk 2077.
Ich weiß, ich weiß: Eine Expedition in den Bauch grafiklastiger Kommerzmaschinen steht vermutlich weder auf der To-do-Liste von beutehungrigen Datenpiraten, noch auf der von belesenen Kriegerhäuptlingen. In der Tat genießen Videospiele auch außerhalb dieses Refugiums, in der (vermeintlich) zivilisierten Welt, einen zweifelhaften Ruf. Das beste Szenario ist dabei profitables Dahinvegetieren am Rande des gesellschaftlichen Diskurses. Das schlimmste eine Statistenrolle in den Inszenierungsbemühungen eines Moralapostels oder klickhungrigen Streamers.
Was Cyberpunk 2077 angeht, so haben wir es jedoch mit einem Ausreißer zu tun. Einer Anomalie, die das Internet bis in die hintersten Winkel erschüttert und das bisherige Konzept von Dystopien über den Haufen geworfen hat. Es versteht sich von selbst, dass dieses singuläre Ereignis nicht unkommentiert bleiben kann. Erst recht nicht an diesem Ort.
Statt einer Anita Sarkeesian zum Opfer zu fallen oder als Galionsfigur in die Debatte um Amoklauf X eingespannt zu werden, hat es Cyberpunk 2077 von allein auf die schwarze Liste geschafft. Die treibende Kraft hinter diesem Erfolg war ein Marketingapparat von wahrhaft atemberaubenden Proportionen. Noch atemberaubender war einzig der Crash, der auf den Hype folgte und den verantwortlichen Spieleentwickler über Nacht vom Musterknaben der Industrie zu deren Erzschurken machte.
Die folgenden Abschnitte werden die Wrackteile dieser Katastrophe genauer unter die Lupe nehmen. Als Gegengewicht zu meiner eigenen Voreingenommenheit habe ich ein Individuum eingeladen, das für seinen konträren Standpunkt bekannt ist. Werte Querdenker und Abtrünnige, erlaubt mir, den verabscheuungswürdigen Eliphas Kramer vorzustellen:

Ist es bizarr, sich mit einem ausgestoßenen Verräter an einen Tisch zu setzen? Vielleicht. Aber Diplomatie ist mir kein Fremdwort und in Anbetracht von Dr. Kramers Unterstützung im Zusammenhang mit der Taschenbuchausgabe von Plünderer bin ich gewillt, Toleranz walten zu lassen. Immer vorausgesetzt, dass die Leser dieses Transkripts von der Meinungsdiversität profitieren.
Eliphas: Diversität ist ein ausgezeichnetes Schlagwort. Weniger zufrieden bin ich dagegen mit dem doch sehr melodramatischen Begriff Verräter. Aber ich will mal nicht auf der Semantik herumreiten. Meinen Glückwunsch zur Publikation Eures ersten Taschenbuchs. Wobei, hättet Ihr meinem Rat Folge geleistet, würde die Stimme des Klotz Van Ziegelstein im Reichstag erschallen anstatt in dieser WordPress-Deponie.
Klotz: Es ist immer noch mein Zuhause, von dem Sie da sprechen, Dr. Kramer. Ganz zu schweigen davon, dass in dieser Deponie eine neue Barbarengeneration heranwächst.
Eliphas: Bedarf eine Wesenheit Eures Formats überhaupt noch eines Zuhauses?
Klotz: Wollen Sie wirklich über dieses Thema diskutieren?
Eliphas: Um ehrlich zu sein, würde ich gerne da weitermachen, wo wir zuletzt aufgehört haben. Aber mir ist klar, dass ich nicht eingeladen wurde, um unsere Meinungsverschiedenheiten zu verifizieren. Weiter im Text!
Klotz: Nun, da wir die Einführung meines heimtückischen Gesprächspartners hinter uns haben, ist es an der Zeit, den desaströsen Launch von Cyberpunk 2077 …
Eliphas: Direkt zur Zielgeraden. Nichts hat sich geändert. Möglicherweise wäre es angemessen, zunächst das Wort Cyberpunk zu definieren? Andernfalls dürfte sich die Anwendung eines objektiven Maßstabs schwierig gestalten.
Klotz: Wie konnte ich nur den Definitionswahn des Dr. Kramer vergessen? Spulen wir zurück ins Jahr 1984.
Das Cyberpunk-Genre
Klotz: Die Geburtsstunde des Cyberpunk-Genres lässt sich nicht exakt auf dem Zeitstrahl verorten. Fest steht, dass unter der Bezeichnung Cyberpunk mehrere Zukunftsängste vereint sind. Das Wort Angst ist hier irreführend: Seine Säuglingsjahre brachte das Genre keinesfalls passiv zu, vielmehr startete es als eine Gegenbewegung zum Goldenen Zeitalter der Science-Fiction.
Jenes Zeitalter war durch ein relativ optimistisches Weltbild geprägt, zu dessen Leitarchitekten nicht zuletzt der technische Fortschritt gehörte. Man war davon überzeugt, dass die Menschheit auf eine sorglose Zukunft zusteuerte (mit der Wissenschaft als dem omnipotenten Wegweiser).
Die Schwerenöter am Cyberpunk-Tisch sahen das anders. Für sie stellte Technologie lediglich ein weiteres Gadget im Arsenal der Elite dar. Ein Werkzeug aus derselben Schmiede wie Religion, das existierende Hierarchien zementieren statt abbauen würde. Technologie würde den Menschen nicht befreien. Sie würde ihn stärker binden als je zuvor.
Angetrieben von diesem Pessimismus begannen verschiedenste Werke mit der Sondierung. Bücher und Filme tasteten sich an die dystopische Zukunft heran, loteten die Abgründe von Mensch und Technologie aus. Erst im Jahr 1984 erhielt das Genre jedoch sein ausgewaschenes Neongesicht:
Der Himmel über dem Hafen hatte die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal geschaltet war.
— Der Einleitungssatz einer neuen Zukunft

Klotz: Seit der Cyberspace-Cowboy Henry Dorsett Case zwei KIs in einem Weltraumkasino miteinander vereint hat, ist Science-Fiction auf eine dreckigere Leinwand gewechselt. Die jugendlichen Entdecker aus dem goldenen Zeitaler sind in verregneten Neongassen gemeuchelt, ihr philosophisches Technogesülze in Werbeanzeigen und Pistolenschüssen ertränkt worden. Neue Helden haben sie vom Podest verdrängt.
Zugedröhnte Hacker. Mechanisierte Straßenschläger. Ex-Militaristen mit einem größeren Munitions- als Geldvorrat.
Statt sich übermenschlichen Idealen oder der Raumfahrt zu verschreiben, streben diese Abtrünnigen oftmals nach dem moderaten (und kurzlebigen) Glück eines fetten Zahltags. Und wer könnte es ihnen verübeln? Letztendlich finden sich diese Individuen meist in farblosen Dystopien wieder, wo Staaten graue Erinnerung sind und Megakonzerne den Planeten unter sich aufgeteilt haben.
Eliphas: Wie mir scheint, romantisiert Ihr das Dasein dieser Taugenichtse. Unlogisch in Anbetracht der Tatsache, dass Ihr selbst einst Konzerninteressen durchgesetzt habt. Zumindest in Euren Tagen als Mensch.
Klotz: Das ist wohl kaum der passende Zeitpunkt für Ihre Verschwörungstheorien, Dr. Kramer.
Eliphas: Warum die Vergangenheit leugnen? Es ist keine Schande, den Schulterschluss mit mächtigen Institutionen zu suchen.
Klotz: Haben Sie auch noch etwas anderes als vage Andeutungen im Gepäck? Etwas, das zu unserem gegenwärtigen Thema passt?
Eliphas: Gemäß Eurer Auslegung bezieht sich das Punkelement des Genres auf die Unterschicht. Auf die Verbrecher und Junkies, die sich als (zu Unrecht benachteiligte und moralisch nicht zu ambivalente) Rebellen gegen die Tyrannei der Konzerne erheben. Meiner Meinung nach ist es genau umgekehrt. Die Konzerne sind die wahren Rebellen des Genres.
Weshalb? Weil sich Rebellion per Definition gegen den Status quo richtet. Der Status Quo der Menschheit setzt sich (seit der Urzeit) aus impulsivem Einzelkampf und unkoordinierter Lebensraumerschließung zusammen. Die Konzerne versuchen, aus diesem Muster auszubrechen und eine neue Ordnung zu schaffen. Sie stehen für optimierte Ressourcenverteilung und -nutzung, während Hacker und sogenannte Shadowrunner (irritierend, dass dieser Kernbegriff bislang nicht gefallen ist) nichts anderes vekörpern als Anarchie. Und Anarchie ist, wie gesagt, der Naturzustand des Menschen.
Klotz: Ihre Logik dürfte in diesem Winkel des Internets auf geringe Resonanz stoßen.
Eliphas: Wahrscheinlich. Dann gebt uns eine Definition mit mehr Resonanzpotential.
Klotz: Ich war gerade dabei, das zu tun, als Sie mich unterbrochen haben. Wie dem auch sei. Durch die Linse von Cyberpunk betrachtet, hält die Zukunft folgende Überraschungen für uns bereit:
- Nationalstaaten verlieren zunehmend an Bedeutung und Konzerne übernehmen das Ruder.
- Gewinnorientiertes Ressourcenmanagement wird auf alle Aspekte der Welt angewendet. Selbst das einzigartigste Individuum ist nicht mehr als ein Rad in der Maschine.
- Fortschrittliche Technologie ist breit verfügbar, vertieft jedoch existierende Gräben in der Gesellschaft statt sie zu schließen.
- Das Internet wandelt sich vollends zu einer virtuellen Realität. Hacker und KIs herrschen über diese Datenlandschaft.
- Konzerne investieren weniger großzügig in Infrastruktur als Staaten. Als Konsequenz davon fallen ganze Städte dem Ruin anheim und Bandenkriege werden auf offener Straße ausgetragen.
- Spiritualität, Moralität und letztlich die gesamte menschliche Existenz verlieren ihre Bedeutung. Konsum verbleibt als einzige Religion und Geld als die lenkende Hand des Schicksals.
Eliphas: Es fehlen noch Neonröhren. Diese Beleuchtungstechnologie gehört zur Kernausstattung jeder Zukunftsvision, die von sich behauptet, mehr als eine standardisierte Dystopie zu sein.
Klotz: Neonlicht ist tatsächlich eine visuelle Komponente, die häufig genutzt wird. Ein Nachhall aus der Zeit, die das Genre hervorgebracht hat. Es erscheint mir jedoch überspitzt, Neon als essentiell zu bezeichnen. Cyberpunk ist größer als das Tokyo der 80er.
Eliphas: Gemäß meinen eigenen Recherchen steht diese Äußerung im Widerspruch zum Konsens tausender Tumblr-Blogs und Subreddits. Kein gutes Verhältnis.
Klotz: Na schön, Dr. Kramer. Dieser Punkt geht an Sie: Neonröhren sind das Sahnehäubchen auf dem Cyberpunk-Kuchen.
Eliphas: Wo wir gerade dabei sind: Ihr habt Neuromancer zu viel Ehre zugesprochen. Zur selben Zeit, da sich William Gibson mit seinem Debütroman abmühte, arbeitete nämlich auch Ridley Scott an einem Filmprojekt.
Dieses Projekt hat es vor Neuromancer auf den Markt geschafft, unter dem Titel Blade Runner. Die Ästhetik dieses Filmstreifens hat das gesellschaftliche Verständnis von Cyberpunk vermutlich tiefer geprägt als Neuromancer. Schließlich hat das digitale Zeitalter den Propagandagrundsatz keinesfalls entkräftet: Das Bild ist ein effektiveres Übermittlungsmedium als das geschriebene Wort.
Klotz: Ich hatte gehofft, dass dieser Film unerwähnt bleiben würde. Nicht weil ich ihm die von Ihnen suggerierte Bedeutungsrolle abspreche. Im Gegenteil, der Film zeigt eine äußerst plausible Cyberpunk-Realität auf. Doch eine Analyse von Blade Runner würde den Rahmen dieser Diskussion sprengen.
Ich werde nicht mit einem Propagandisten (Sie bezeichnen sich immer noch so, nicht wahr, Dr. Kramer?) über die Effizienz des bewegten Bildes streiten. Womöglich sollten wir diesen Unterabschnitt auf diese Weise abschließen. Idealerweise mit einem Clip im YouTube-Format, der alle wesentlichen Elemente von Cyberpunk kommuniziert und zusätzlich den Schönling Ryan Gosling enthält:

Die Fehlgeburt von Cyberpunk 2077
Klotz: Da Sie so gerne bei Adam und Eva anfangen, Dr. Kramer, werden Sie gewiss nichts gegen einen weiteren Exkurs einzuwenden haben. Letztendlich sitzt der Großteil unserer Stammesgemeinschaft nicht täglich vor einer Spielkonsole. Ein paar Hintergrundinformationen zum Entwicklerstudio von Cyberpunk 2077 werden alle auf denselben Wissensstand holen.
Eliphas: Ich habe in der Tat nichts einzuwenden. Die van ziegelstein’schen Exkurse, die ich kenne, verlieren sich aber unweigerlich in langatmigen Monologen. Lasst mich die Fakten zusammenfassen.
Klotz: Ich sehe, der Wahrheitsschmied wähnt sich noch immer überlegen. Wohlan, tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber erwarten Sie nicht, dass ich Ihre Wissenslücken fülle.
CD Projekt
Eliphas: Meine eigenen Recherchen waren gründlich genug, danke. Das Konsumgut Cyberpunk 2077 wurde von CD Projekt entwickelt, einem jüngeren Namen in der Spieleindustrie. Seine Wachstumsphase hat dieses Unternehmen bewältigt, indem es sich auf die Konversion von Romanen des polnischen Schriftstellers Andrzej Sapkowski ins Videospielformat spezialisiert hat.
Andrzej Sapkowskis Bücher sind am Markt gescheitert, wohingegen CD Projekts Adaptionen maximale Kompatibilität erreicht haben.
Klotz: Sie wagen sich auf dünnes Eis, Dr. Kramer.
Eliphas: Die Zahlen sprechen für sich. Durch die Kombination von technischem Fachwissen mit einem messerscharfen Geschäftssinn hat es CD Projekt geschafft, einen modernden Bücherstapel in ein Milliardenimperium zu verwandeln. Oder ist Euch entgangen, dass der Hexer Geralt nicht länger in den wassergekühlten Tiefen von Gamer-PCs gefangen ist? Er reitet heutzutage über die Monitore von Netflix-Abonnenten.

Eliphas: Dieses Gespräch hatte bislang die Prämisse eines Versagens. Mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Fehleinschätzung. Die Grundpfeiler von CD Projekts Erfolg waren stets Marketing und PR. Nie Qualität und Innovation. Gemessen an diesem Maßstab ist Cyberpunk 2077 kein Paradigmenwechsel, sondern die Fortführung eines altbewährten Geschäftsmodells.
Klotz: Ihre Argumentation ist absurd. Der Einfluss der Witcher-Trilogie auf die Spieleindustrie, gerade auch in Sachen Innovation, kann gar nicht überschätzt werden. Die Reihe hat die Messlatte für Geschichten im virtuellen Medium auf ein neues Niveau gehoben. Cyberpunk 2077 ist nicht einmal in derselben Liga.
Eliphas: Ein berittener Krieger in einer pseudo-offenen Welt, der sich mit Schwert und List einen Namen macht und zur Erholung auf die allgemeingültige Trinität von Wein, Weib und Gesang setzt. Dieses Konzept ist schon zuvor durchexerziert worden und besser. Die wahre Brillianz liegt darin, diese Erfahrung als etwas Neues zu verkaufen.
CD Projekt ist hier eine zweigleisige Strategie gefahren. Einerseits hat es die Witcher-Spiele als den großen Auftritt von bis dato ungenutzter (und somit nicht monetarisierter) slavischer Folklore auf dem Weltmarkt dargestellt. Diese Marketingbotschaft war geeignet, um in die Ohren übersättigter Konsumenten und skeptischer CEOs vorzudringen.
Aber CD Projekt ist noch einen Schritt weitergegangen. Es hat seine Lehren aus dem Werdegang von Industriegiganten wie Electronic Arts gezogen und das öffentliche Image von Anfang an zur Priorität gemacht. Der eigenen Propaganda zufolge war CD Projekt demnach kein aufstrebendes Entwicklerstudio mit finanziellen Interessen, sondern ein Robin Hood aufseiten der Konsumenten.
Bezüglich der Implementation haben wir es selbstverständlich mit einem unauflösbaren Widerspruch zu tun. Ein Konzern müsste seinem Wertschöpfungsziel entsagen, um auf der Seite des Konsumenten zu stehen. Glücklicherweise ist die Implementationsfrage irrelevant, da sie durch tadellose Öffentlichkeitsarbeit an den Rand des Geschehens (und darüber hinaus) gedrängt wurde. Öffentlichkeitsarbeit, die CD Projekt als den einsamen Ritter in einem Lager aus Halsabschneidern dastehen lässt. EA, Bethesda, Ubisoft. Das sind die Bösen. Nicht CD Projekt. CD Projekt ist der gute Konzern.

Ein weiterer Schachzug in dieser Kampagne war die Gründung von GOG, einer Plattform, auf der beim Kauf eines Spiels nicht bloß eine individuelle Nutzungslizenz, sondern vollwertiges Eigentum im klassischen Sinne erworben wird. Dieses Rechtsdetail macht GOG zur Antithese von Steam, dem vorherrschenden Onlineshop für Videospiele.
Klotz: Ihre Recherchen waren in der Tat gründlich, Dr. Kramer. Allerdings begehen Sie den Fehler, Ihr eigenes Denkschema auf CD Projekts Führungsetage anzuwenden. Ich für meinen Teil bin überzeugt, dass das Entwicklerstudio (zumindest in seinen Anfangsjahren) nicht nur hohle Propaganda betrieben hat. Vielmehr waren die Beteuerungen hinsichtlich Kundenzufriedenheit und Fairness Ausdruck eines abgehobenen Selbstbilds. CD Projekt sah sich als reinigenden Messias in einer korrumpierten Industrie.
Eliphas: Also geht Ihr davon aus, dass sich das Management von Größenwahn statt Geschäftssinn leiten ließ.
Klotz: Das Innenleben von Megakonzernen ist mir nicht gänzlich unvertraut. Größenwahn ist der Modus Operandi auf C-Suite-Ebene.
Die nächste Adaption
Klotz: Stichwort Größenwahn: Ich schätze, wir haben inzwischen ausreichend Daten, um uns Cyberpunk 2077 zu widmen.
Hüsteln Die Geschichte beginnt im Jahr 2012: Berauscht vom Erfolg der Witcher-Spielreihe wälzte sich CD Projekt vom Deckel seiner prall gefüllten Kriegskasse und machte sich an die Erschaffung der umfassendsten Weltfluchtsfantasie in der Menschheitsgeschichte. Immer mit dem ultimativen Ziel, das Zepter der Videospielindustrie an sich zu reißen und sein Logo auf dem Unterhaltungsolymp zu verewigen.
Zu diesem Zweck unternahm das Management einen Undercover-Trip in die Straßen von Cyberpunk 2020, einer dystopischen Halluzination aus der Feder von …
Eliphas: Ich unterbreche nur ungern, aber diese Darstellung zeichnet ein falsches Bild.
Klotz: Meine Geduld ist endlich, Dr. Kramer. Welche Fakten habe ich übersehen?
Eliphas: Keine. Es ist die Interpretation, die fehlerbehaftet ist.
Klotz: … Dann geben Sie uns Ihre Version der Ereignisse.
Eliphas: Es ist simpel. Als sich die »Wilde Jagd« des dritten Witcher-Spiels ihrem Ende näherte, schnappten die immer wachsamen Fühler von CD Projekts Marketingabteilung bereits den Rückgang des Hypes auf. Das Franchise war am Scheitelpunkt angelangt und würde in den Folgejahren schwinden, seines Neuheitsbonus beraubt.
Die Führungsspitze von CD Projekt wartete nicht auf das Einsetzen des Verfalls. Stattdessen machte sie sich auf die Suche nach einem Ersatz. Einer Fantasiewelt mit ähnlichen Attributen wie die von Andrzej Sapkowski und dem historischen Mittelmaß, das sie zum Füllen der Lücke befähigen würde. Der Nachfolger war gefunden, als sie über dieses Fossil stolperten:
- Name: Mike Pondsmith
- Komposition: 95% Mensch
- Beruf: Weltenbauer
- Geheime Identitäten:
- Morgan Blackhand
- Projekte:
- Mekton
- Cyberpunk 2020
- Teenagers from Outer Space
- Castle Frankenstein

Klotz: Dieses Fossil ist ein Cyberspace-Cowboy der ersten Stunde. Ein größerer Ausreißer als wir beide, Dr. Kramer. Sie hätten ihn außen vor lassen sollen. Cyberpunk 2077 ist weiter von seiner Vision entfernt als Pluto von der Erde.
Eliphas: Offensichtlich bin ich nicht der Einzige, der in seinem subjektiven Denkschema gefangen ist. Diese Scheinwerferpersönlichkeiten haben allerhöchstens das Image von Rebellen, doch ihr Handeln verläuft innerhalb der Bahnen von Kommerz und öffentlichem Wohlwollen.
CD Projekt hat den alten Pondsmith in derselben Grube entdeckt, aus der es Jahre zuvor Andrzej Sapkowski ausgegraben hat. Auch er war ein Künstler, der es nicht bis ganz oben geschafft hat. Ein Name mit Gewicht. Aber nicht zu viel Gewicht.
Pondsmith hätte mehrere Welten im Angebot gehabt, aber CD Projekt hat Cyberpunk 2020 (und nur Cyberpunk 2020) zu seinem Zugpferd gemacht. Eine weise Entscheidung.
Klotz: Ich höre viel Schwärmerei. Aber es sollte nicht unterschlagen werden, dass wir hier von einem Konzern sprechen. Noch dazu einem, der (vermutlich) ein ganzes Genre mit sich in den Abgrund gerissen hat.
Eliphas: Gestern Feind. Morgen Freund. Unsere Welt ist schnelllebig, Herr Van Ziegelstein. Gerade Ihr solltet das wissen. Außerdem: Ist es nicht ein Zeichen von Bescheidenheit, wenn ein Meister das Schaffen anderer bewundern kann? Führen wir uns doch nur mal den ersten 2077-Teaser zu Gemüte:

Eliphas: Dieser Trailer ist schon für sich genommen ein Meisterwerk. Mit der richtigen Mischung aus düsterem Noir und dem Neonspektrum von zeitgenössischem Cyberpunk. Ähnlich wie bei der Witcher-Saga hat CD Projekt auch diesmal keine Mühen gescheut, um seinen Fund vom Moder und Dreck des Kulturfriedhofs zu befreien. Die Episoden aus der Serie Night City Wire sind ein weiteres Paradebeispiel für gekonntes Anfeuern der Hype-Maschine:

Eliphas: All diese Appetithäppchen waren perfekt auf die Wunschvorstellungen der Videospielgemeinde zugeschnitten. Der Ruhm der Witcher-Adaptionen und CD Projekts Saubermann-Image operierten als Blasebälge für eine Esse, die auch ohne Luft den gesamten Eiffelturm geschmolzen hätte.
Allen, denen an der Manipulation der Massen gelegen ist, kann ich nur zu eingehendem Studium dieser Propagandakampagne raten. So macht man sich den hyperaktiven Bienenstock des 21. Jahrhunderts untertan. Wie kommt es, dass der weitsichtige Van Ziegelstein noch nicht zur Emulation geschritten ist? (Zugegeben, den Medienliebling Keanu Reeves einzuspannen, würde besondere Mittel erfordern.)

Klotz: CD Projekt hat an dieser Front einen Sieg errungen, das lässt sich nicht bestreiten. Die Marketingmaschinerie für dieses Spiel war ein Leviathan biblischen Ausmaßes. Der einzige Schwachpunkt war, dass auch dieser Leviathan (wie alle seine Vorgänger) ein funktionierendes Produkt versprach. Und als der Tag kam, an dem auf die Worte Taten folgen mussten, gab es ein böses Erwachen:

Klotz: Der Launch am 10. Dezember war der letzte Nagel im (ausgebrannten und virenverseuchten) Sarg von 2020. Nach einem Wartejahrzehnt hat sich nicht viel mehr als eine zerknüllte Skizze der versprochenen (Alp-)Traumwelt in den Händen der Endkunden materialisiert. Und in den Händen von PS4- und Xbox-Besitzern nicht einmal das: Sie erhielten für ihr Geld einen Bluescreen.
Wirklich ins Rollen kam die Kontroverse durch die Enthüllung, dass CD Projekt im Vorfeld einzig Zugangscodes für die PC-Version an Influencer verteilt hatte. Darüber hinaus waren potentielle Rezensenten zur Einhaltung gewisser Richtlinien ermuntert worden. Richtlinien wie dem ausschließlichen Gebrauch vorgefertigter (und entsprechend getunter) Clips für YouToube-Videos. Es ist wohl nicht überraschend, dass diese Absprachen ordentlich Brennstoff für das post-launch Inferno lieferten.
Eliphas: Ich würde gerne anfügen, dass diese erste Empörungswelle von YouTube-Sternchen angefacht wurde, die eine Woche zuvor noch eifrig die Slogans von CD Projekt nachgeplappert hatten. Eine Veranschaulichung des geringen Spielraums, der sogenannten Influencern in ihrer Vitrine bleibt. (Ich bevorzuge daher den Begriff Propagandist, um einen wahren Former der öffentlichen Meinung von einem schlichten Trittbrettfahrer zu unterscheiden.)
Klotz: Wie dem auch sei, die Empörungswelle war hoch genug, um CD Projekt zum Handeln zu veranlassen. Leider erwies sich das Krisenmanagement des Entwicklerstudios als ebenso mangelhaft wie Cyberpunk 2077.
Um die Wut der Konsolenspieler (welche zu diesem Zeitpunkt einen unbrauchbaren Datenklumpen bei sich im Regal stehen hatten) abzublocken, verschanzte sich CD Projekt hinter einem weiteren Versprechen: Die enttäuschten Zocker könnten sich den Kaufpreis von Microsoft und Sony erstatten lassen. Der Haken an der Sache? Keiner der beiden Megakonzerne war in diesen Plan eingeweiht.
Microsoft legte seinerseits erstaunlichen Großmut an den Tag und erlaubte Xbox-Besitzern die volle Rückerstattung (schätze, der alte Bill war mit dem Rekrutieren von Scheidungsanwälten beschäftigt). Sony war demgegenüber weniger kooperationsfreudig. Der japanische Konzern schwenkte nur langsam und mit lautem Zähneknirschen (und nach stoischem Festhalten an seinem Regelwerk) auf den Kurs von Microsoft ein. Jedoch nicht, ohne CD Projekt eine Lektion in Sachen Konzernpolitik zu erteilen: Cyberpunk 2077 wurde aus dem PlayStation-Store verbannt.
Ein wahrhaft historischer Moment. Der Konsolentitan ist berüchtigt für seinen trägen Hintern, der sich durch kein noch so explosives Fiasko von der Sitzfläche seines Thrones separieren lässt. Sony interessiert sich nicht dafür, woher und weshalb das Geld fließt. Bloß, dass es fließt.
Der zunehmende Druck nötigte CD Projekt zu einer Strategieanpassung. Es war an der Zeit, Busse zu tun und sich verlorene Sympathiepunke zurückzuholen:

Eliphas: Auch wenn ich die PR-Arbeit des Studios gepriesen habe, die Exekution des Produktlaunchs war suboptimal. Dieses Video ist besonders stümperhaft. Jedem Propagandanovizen sollte bewusst sein, dass eine öffentliche Entschuldigung nicht ohne Mobilisierung der Tränendrüse auskommt. Entweder hat Mr. Iwiński seinen Part nicht genug geübt oder jemand hat aus Versehen das Geiseldramavideo eingelegt.
Nichtsdestotrotz sehe ich mich in der Pflicht, die Einstufung des 10. Dezembers als Bruchlandung anzufechten. Die Verkaufszahlen haben sämtliche Rekorde gebrochen. Der 10. Dezember 2020 wird als der größte Videospiel-Launch aller Zeiten in die Geschichte eingehen.
Klotz: Gefolgt vom größten Crash.
Eliphas: Welche Bedeutung hat das Wort Crash in diesem Kontext? Konsumenten machen immer Lärm, aber die Entscheidungsgewalt liegt bei ihren Geldbörsen. Und in diesem Fall hat sich die stille Mehrheit der Geldbörsen nicht nur bereiterklärt, die Kosten von neun Jahren Spieleentwicklung zu decken. Sie hat die Gründer von CD Projekt zu Milliardären erkoren. Passt das auf Eure Definition von Crash? Für mich klingt das Ganze nämlich nach Erfolg.
Klotz: Temporärer Erfolg, für den der Ruf und die guten Beziehungen zu Absatzpartnern geopfert wurden.
Eliphas: Menschen vergessen schnell und das Internet noch schneller. Der Groll gegenüber CD Projekt wird abflauen. PR und Werbung werden den Rest erledigen. Das Einzige, was auf lange Frist zum Problem werden könnte, ist der Cyber-Zwischenfall vom Februar. Aber Ihr wisst in dieser Hinsicht wahrscheinlich mehr als ich?
Klotz: Wollen Sie andeuten, dass der Hack auf mein Konto geht? Interessant. Ich habe diesen Kinderstreich für eine typische Kramer-Aktion gehalten.
Eliphas: Ich habe kein Bedürfnis, meine Sammlung halbfertiger Programme zu erweitern.
Klotz: Ich ebensowenig.
Wie real ist zu real?
Eliphas: Unsere gemeinsame Vergangenheit lässt mich bezweifeln, dass Worte den rigiden Klotz Van Ziegelstein von seinem Standpunkt abbringen könnten. Und in einer privaten Konversation würde ich es auch nicht versuchen. Eure Anhängerschaft erwartet aber bestimmt einen Konsens von unserer Seite, weshalb ich mich an die fruchtlose Ausführung machen werde.
Klotz: Ich bin immer bereit, mich von guter Argumentation überzeugen zu lassen.
Eliphas: Und diese Argumentation überzeugt mich nicht.
Klotz: Aber gewiss dürfte Logik das Gehör des Dr. Kramer finden? Am Ende des Tages ist auch eine Marketingmaschine eine Maschine. Und wie jede Maschine kann sie das gewünschte Ergebnis (in diesem Fall Hype) nur produzieren, wenn sie mit dem entsprechenden Rohmaterial gefüttert wird. Eines dieser Materialien war der Elan der Masse.
Die Öffentlichkeit hat den Leviatan bereitwillig genährt, blind für den Widerspruch des Marketingversprechens. Denn wie könnte ein Megakonzern (was CD Projekt zu diesem Zeitpunkt bereits war) jemals hoffen, das Kronjuwel eines Genres zu schaffen, welches gerade mit Umsatzriesen dieser Art auf Kriegsfuß steht?
Es ist eine bittere Ironie, dass das Wort Cyberpunk mittlerweile eine Marke im Besitz von CD Projekt ist. Rebellion gegen das System ist zu einem Konsumgut des Systems geworden, eingespielt in den Alltag wie jeder andere Unterhaltungsstreifen. Wie konnte es so weit kommen?
Eliphas: Ihr beklagt den Tod eines Idealzustandes, der nie existiert hat. Cyberpunk war schon immer ein kommerzielles Produkt. Blade Runner? Eine Geldkuh aus den Ställen Hollywoods. Neuromancer? Geschrieben von einem Lohnsklaven an der Leine eines Verlags.

Der einzige nicht-kommerzielle Einfluss auf das Genre war Zeit, die Cyberpunk schrittweise auf seine essentiellen Bestandteile reduziert (man könnte auch sagen vereinfacht) hat. Das ist der natürliche Lebenszyklus von Ideen, die im Mainstream angekommen sind. Was das Cyberpunk-Genre betrifft, so ist diese Amortisation vollendet, mit Neonlicht als dem differenzierenden Symbol im Bewusstsein der Masse.
Ich bin natürlich im Bilde darüber, dass Euer Bezug zum Genre nicht nur sachlich, sondern auch sentimental ist. Schließlich ordnet Ihr Eure eigenen Zukunftsprognosen jener Kategorie zu. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb wir in unserem ersten Meeting seit Monaten ausgerechnet dieses Thema besprechen?
Klotz: Was Cyberpunk derzeit repräsentiert, ist weniger wichtig als das, was es repräsentierten sollte: einen nüchternen Scheinwerfer auf die gegenwärtigen Wahnvorstellungen der Menschheit und die Zukunft, in die sie uns führen werden.
Eliphas: Bloß dass die Zukunft, vor der uns das Genre zu bewahren suchte, bereits hier ist. Ich habe Eure alten Posts überflogen und ich glaube, zumindest in diesem Punkt besteht Aussicht auf Einigung. Wart nicht Ihr es, der den Anfang einer »Cyberpunk-Dekade« ausgerufen hat? Würdet Ihr mir nicht zustimmen, wenn ich sage, dass die Realität die Hypothesen von Gibson and Stephenson längst überholt hat?
Oder vielleicht sollten wir einen Megakonzern zu dieser Frage konsultieren? Ein altgedientes Schlachtross wie die Rotmeier Gruppe?
Klotz: Imaginäre Konglomerate dürften kaum etwas beizusteuern haben, Dr. Kramer. Aber ich stimme Ihnen zu. Die Dystopie ist hier und die Botschaft der Propheten von einst obsolet. Und trotzdem: Als ehemaliger Werkmeister des Stammes haben Sie hoffentlich nicht vergessen, dass uns eine weitaus barbarischere Zukunft erwartet.

Klotz: Es ist unsere Pflicht, die Reste der Cyberpunk-Bewegung unter einem neuen Banner zu einen. Einem Banner, das auch im kommenden Barbarenzeitalter noch stehen wird.
Eliphas: So lautete Euer ursprünglicher Auftrag, ich erinnere mich. In der Menschheitsgeschichte ist das traditionelle Genre für Prophezeihungen bis vor Kurzem noch Religion gewesen. Habt Ihr Euch nie überlegt, in dieses Gebiet vorzustoßen?
Klotz: Religion ist nur für Prophezeiungen mit übernatürlicher Komponente. Aber Gott ist immer noch ziemlich tot, wie von Nietzsche observiert, und er wird in der Zukunft nur noch toter sein. Cyberpunk ist unser Weg.
Eliphas: Ein sehr kommerzieller, in Neonlicht gebadeter Weg, der selten an einladenden Zwischenstationen Halt macht. Und noch seltener an Stationen, wo sich wilde Kreuzfahrer für eine barbarische Sache rekrutieren lassen.
Klotz: Nun, wir haben schon mal diese Station. Und es werden sich auch in anderen Netzregionen genug angehende Kreuzfahrer finden. Soziale Versammlungsstätten wie der Kommentarbereich von YouTube sind der Beweis, dass ein Übermaß an Wildheit im modernen Menschen siedet. Das Einzige, was fehlt, ist Führung.
Womit ich bei meinem nächsten Punkt angelangt wäre: dem Schöpfer des Marketingleviathans. CD Projekt war mit der Verjüngung des Cyberpunk-Genres betraut. Mit dem Schreiben des nächsten Kapitels.
Und es ist anzunehmen, dass sich die Führungsetage dieser Verantwortung bewusst war. All die Behauptungen, »das ultimative Cyberpunk-Erlebnis« erschaffen zu wollen, waren ernst gemeint. Zum Unglück von CD Projekt haben künstlerische Visionen eine Gemeinsamkeit: Sie stehen von ihrer Natur her bereits in Konflikt mit der Realität. Und diese spezifische Vision wurde dazu noch im Hexenkessel der modernen Softwareentwicklung gegart (über eine Zeitspanne von neun Jahren). Allein von dieser Ausgangslage her waren die Witcher-Macher dazu verdammt, in die Fußstapfen von Ikarus zu treten.

Klotz: CD Projekt wollte zu hoch hinaus. Die zuckenden Charaktermodelle von Cyberpunk 2077 sind ein Zeugnis dieser Hybris. Selbstüberschätzung an sich ist unvorteilhaft (in einigen Fällen möglicherweise auch gemeingefährlich), aber nicht verurteilungswürdig. Lug und Trug sind es allerdings. Abrichten von Influencern zu Marketingpapageien? Fälschen von Performance-Berichten (Stichwort Goldstatus auf der PlayStation 4)? Fanatisches Melken der ausblutenden Geldkuh?
Der Tunnelblick, mit dem das Studio der Gewinnmarge hinterhergejagt ist, stellt einen Hochverrat an all seinen (vermeintlichen) Prinzipien dar.
Eliphas: Einmal mehr muss ich widersprechen. Wie schon zuvor gesagt, setzt Cyberpunk 2077 (aus meiner Sicht) ein bestehendes Paradigma fort. CD Projekt hat seine Stärken ausgespielt. Lasst mich zur Klarstellung nochmal wiederholen, was diese Stärken sind:
- Die Adaption einer bereits existierenden Geschichte für das Videospielformat.
- Bau und Betrieb einer Marketingmaschinerie.
- Verschleierung der (unattraktiven) Konzernfassade hinter dem Image eines sympathischen Underdogs.
Aber ich laufe Gefahr, den Meilenstein des Konzerns herunterzuspielen. CD Projekt hat die Erfolgsformel aus den Witcher-Tagen nicht exakt repliziert. Nein, um den Erfolg von Cyberpunk 2077 sicherzustellen, hat sich das Studio in Innovation geübt. Ein ausgesprochen mutiger Entscheid, der den Propagandabotschaften eine übermediale Dimension verliehen hat. Gleichzeitig hat dieses Wagnis den Begriff Videospiel neu definiert.
Die Videospielindustrie kannte immer nur einen Trend: Mehr Realismus (Skeptiker mögen die heutigen Titel mit der Pixelsuppe aus den 90ern vergleichen). Der Markt hat stetig nach höherer Auflösung, plausiblerer Physik und (vor allem) tiefgreifenderen Erlebnissen verlangt.
Realität ohne Realität. Das ist es, was Gamer wollen. Das komplette Paket minus naturgegebene Unannehmlichkeiten (fixe Startpositionen, irreversible Entscheidungen etc.). CD Projekt hat das verstanden. Und deshalb hat das Studio es nicht bei der Entwicklung eines Videospiels belassen. Es ist gleich selbst in die Rolle des bösen Megakonzerns geschlüpft.
Klotz: Sie glauben, diese ganze Kontroverse war beabsichtigt? Ist das Ihr Ernst?
Eliphas: Habe ich jemals Anlass gegeben, an meiner Ernsthaftigkeit zu zweifeln? Vergegenwärtigen wir uns die Elemente, die wir bei unserer Definition von Cyberpunk angesprochen haben:
| Genre-Trope | Implementation von CD Projekt |
|---|---|
| Konzernintrigen | Zwielichtige Deals, drakonische Verträge und klassische Medienmanipulation: CD Projekt hat die Rolle des skrupellosen Megakonzerns bis ins kleinste Detail verkörpert. Sogar die polnische Regierung wurde um ihr Geld erleichtert. |
| Konzernrivalität | Das Tauziehen mit Sony gab Cyberpunk-Enthusiasten (Ein präziser Begriff, der zugleich die kommerzielle Natur des Genres unterstreicht: Um Enthusiasmus hervorzurufen, müssen Dystopien konsumiert werden können wie alles andere auch.) das Spektakel eines Konzernschlagabtauschs. |
| Menschen als Zahnräder | Wenigstens in seiner eigenen Einflusssphäre hat CD Projekt den Alptraum unmenschlicher Arbeitszeiten und unmöglicher Deadlines Realität werden lassen. Angeblich war es bereits zu Witcher-Zeiten Tradition, die Entwicklerteams bis zur letzten IF-Klausel auszupressen. Falls das stimmt, verfügt CD Projekt zusätzlich über den Bonus einer »dunklen Vergangenheit«. |
| Cowboys aus dem Cyberspace | Hacker vs. Megakonzern ist die Ausgangslage des Cyberpunk-Genres, oder nicht? Da keiner von uns beiden Fakten zu diesem Thema produzieren kann (oder will), muss ich spekulieren. Es ist denkbar, dass CD Projekt die Tür absichtlich offen gelassen hat. Ein vereitelter Cyberangriff ist schließlich keine Story sondern Alltag. Es kann natürlich auch sein, dass die vermeintlichen Angreifer in Wahrheit angeheuerte Dienstleister waren. Alles in allem hat sich CD Projekt hier sehr eng ans Skript gehalten. |
Eliphas: Der Markt hat nach einem authentischen Cyberpunk-Erlebnis verlangt. CD Projekt hat geliefert.
Klotz: Ihre Argumente machen sich gut in HTML, sind jedoch genauso substanzlos. Realismus steht oft auf der Wunschliste von Zockern, das haben Sie richtig erkannt. Aber dieser Realismus soll künstlich sein und (wichtiger) auf Knopfdruck starten bzw. enden. Wer ein Videospiel kauft, will nicht Realität ohne Realität. Vielmehr will er Kontrolle über einen Traum. Oder im Fall von Cyberpunk 2077: Kontrolle über einen Alptraum.
Das Chaos, das der 10. Dezember losgetreten hat, gehorcht jedoch nicht den Wünschen eines PlayStation-Knopfes. Gewiss muss auch die verdrehte Logik des Eliphas Kramer hier eine Diskrepanz sehen?
Eliphas: Es liegt keine Diskrepanz vor. Nur Evolution. Der Ausdruck »ein Videospiel kaufen« wird von jetzt an eine ganz andere Bedeutung haben.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass CD Projekt mit den bisherigen Spielregeln gebrochen hat. Cyberpunk 2077 ist eine Rebellion gegen die einfallslosen Marktstrategien der Konkurrenz und die Tyrannei des verwöhnten Konsumenten. Meine Interpretation von Konzernen als den wahren Punks des Genres findet somit Bestätigung. CD Projekt ist der Antiheld in seiner eigenen Cyberpunk-Legende.
Klotz: Sie sind wahnsinnig, Dr. Kramer.
Eliphas: Ich kann versichern, dass mein Intellekt einwandfrei funktioniert. Solltet Ihr Euch nicht um Eure eigene mentale Gesundheit sorgen?
Klotz: Ich sorge mich definitiv mehr um meine denn um Ihre, Dr. Kramer. Der letzte Testscan war aber erfolgreich. Von daher können Sie sich darauf freuen, meine vollwertige Persönlichkeit ein zweites Mal zu verraten.
Unabhängig davon habe ich das Gefühl, dass wir an einem toten Punkt angekommen sind. Sollen wir hier schließen?
Eliphas: Gerne.
Fazit

Klotz: Mein Urteil steht fest. Cyberpunk 2077 ist ein Symbol für entgleiste Konzerngier und der Auftakt zur Sinnentleerung des Dystopie-Konzepts.
Da wären zum Einen die Auswirkungen auf die Videospielindustrie: Ausgehend von den Verkaufszahlen wird die Branche keine andere Wahl haben, als sich für künftige Projekte an Cyberpunk 2077 zu orientieren.
Sowohl Konsolen- als auch PC-Spieler werden sich darauf einstellen müssen, halbfertige Codehaufen und Alpha-Builds zum Vollpreis zu erwerben. Wahrlich, in diesem Sektor wird die Konzerndiktator absolut sein.
Die weitaus größere Tragödie ist allerdings die Beschmutzung des Cyberpunk-Genres. CD Projekt ist mit seiner Marketingartillerie eingefahren und hat die wahren Zukunftspropheten vertrieben. Falls der Konzern jemals an seine eigenen Floskeln geglaubt hat (wenn auch nur für eine Sekunde), dann wäre der einzig tugendhafte Schritt die sofortige Auflösung der Markenrechte am Wort Cyberpunk. Kein Unternehmen sollte Anspruch auf dieses Wort haben. Und CD Projekt hat sich als besonders unwürdig erwiesen.
Aber das alles ist natürlich Wunschdenken. Konzerne richten sich nicht nach Idealen. Sie branden sie. Cyberpunk wird fortan den Beigeschmack von Verrat und verbranntem Geld haben. Die Memes und Bug-Kompilationen werden mit dem Genre fusionieren und es schließlich definieren.
Es wird eine gewaltige Herausforderung sein, die Assoziation von Dystopie mit einem schlecht animierten Keanu Reeves rückgängig zu machen.
Eliphas: Euer Pessimismus ist fehl am Platz. Von kleineren Patzern wie dem Entschuldigungsvideo abgesehen war Cyberpunk 2077 ein astronomischer Erfolg. Die Nachfrage des Marktes wurde befriedigt und zwar auf eine unkonventionelle, geradezu revolutionäre Art und Weise. Ist es nicht kennzeichnend für die besten Geschichten, mit einer überraschenden Wendung zu enden?
CD-Projekt hat einem sterbenden Genre zu erneutem Höhenflug verholfen. Frische Produkte (nicht ideologische Bewegungen) werden nachrücken, um diesen Durst zu stillen. Cyberpunk wird die Fließbänder der Entertainment-Industrie am Laufen halten, so war es seit Anbeginn des Genres und so wird es immer sein. Nichts ist besudelt worden.
Wie von Euch angedeutet wird ein positiver Nebeneffekt dieser Errungenschaft auch ein höherer Optimierungsgrad sein. EA & Co haben aufgezeigt bekommen, was das Videospiel der Zukunft mitzubringen hat. Dies wird zu besserer Ressourcenverteilung und weniger Verschwendung führen.
Zuletzt würde ich gerne noch auf die Scheinheiligkeit Eures eigenen Standpunkts hinweisen. Es ist verständlich, dass bestimmte Ereignisse Euch mit einer lauwarmen Einstellung hinsichtlich der Konzernwelt zurückgelassen haben. Und doch ist es evident, mit Sicherheit auch für den nahezu allwissenden Klotz Van Ziegelstein, dass Konzerne ein notwendiges Übel der Moderne sind? Es liegt in der Natur des Menschen, sich für Gewinnmaximierung in hierarchische Strukturen zu flüchten. Oder was ist diese Gemeinschaft, wenn nicht ein solcher Verbund?
Klotz: Ich bin mir im Klaren darüber, dass uns der Stamm auf ewig überschatten wird, Dr. Kramer. Aber das Wissen um die Begrenztheit des Menschen macht aus mir noch keinen Befürworter der Machtblöcke, die in diesen Tagen über den Kontinent stolpern. Der (ständig weitervererbte) Designfehler im Genom von Konzernen ist, dass sie mit den Füssen von Riesen und den Hirnen von Mistfliegen agieren.
Eliphas: Und trotzdem nutzt Ihr Konzernressourcen für die Wartung dieses Ortes und die Distribution Eurer Schriftstücke. Gebt es doch einfach zu. Ihr seid ein Opportunist wie ich. Der ungebundene Van Ziegelstein kann niemals behaupten, gegen die Konzernwelt zu sein, da er seine Fahne letztendlich immer nach dem Wind hängt. Alte Gewohnheiten lassen sich nicht abschütteln, Agent 0.
Klotz: Es ist Zeit für Sie zu gehen, Dr. Kramer.
Eliphas: Es ist in der Tat Zeit. Ich hoffe, wir können unseren Dialog in nicht allzu ferner Zukunft fortsetzen.
Klotz: Und ich hoffe, die Zukunft ist fern. Hinaus mit Ihnen und viel Pech bei Ihrem hinterlistigen Wirken.
Eliphas: Pech wird meine Gleichungen nicht beeinträchtigen.
