Mittelmoderne

2031

Tod des US-Dollars

Am 16. Mai 2031 bricht der Dollarkurs abrupt ein und löst damit eine globale Finanzkrise aus. Um die kränkelnde Weltwirtschaft am Leben zu erhalten, ist kein Opfer zu groß. Auch nicht die Grundpfeiler der Staatsgewalt.

Nach Passieren der Fiskalhölle sieht sich so manche Regierung zu einem einfachen Marktteilnehmer herabgestuft, der administrative und polizeiliche Expertise von privaten Dienstleistern beziehen muss.

2033

Formung der Egalitätsküste (EK)

Kalifornien und Washington fusionieren zu einem einzigen Staat (und schlucken dabei Oregon). Das neue Rechtsgebilde betitelt sich als die Egalitätsküste (häufig zu EK abgekürzt) und erklärt den Austritt aus den Vereinigten Staaten. Gegen außen wird der Schein einer harmonischen Demokratie gewahrt. Die echten Machthaber tagen in den Sitzungszimmern von Konzerngiganten.

Die Geburt der EK ruft weitere Fraktionen auf den Plan, unter anderem die Roststädte und die Südunion.

Die neuen Grenzverläufe auf dem amerikanischen Kontinent bleiben ein Streitpunkt.

2035

Der Fall Gray Spectrum

Gray Spectrum, ein Unternehmen für Cybersicherheit, wird vor den europäischen Gerichtshof zitiert. Die Anklage lautet auf Verletzung der DSGVO.

Eine Woche nach Eröffnung wird das Verfahren bereits eingestellt, offiziell wegen eines Irrtums im Sachverhalt. Recherchen unabhängiger Journalisten fördern den wahren Grund zutage: Die Firma hatte damit gedroht, brisante Dokumente der Brüsseladministration zu veröffentlichen. Der genaue Inhalt dieser Dokumente kann nie ermittelt werden, lediglich das Codewort für die Bezugnahme in interner Korrespondenz: Loch Ness 2.0.

Am Ende des Kalenderjahres wird das Mysterium relativiert: Großbritannien, das den Brexit zwei Jahre zuvor rückgängig gemacht hat, steht vor dem Staatsbankrott und wird die Union mit seinen Schulden in den Abgrund reißen.

Die Enthüllung zieht eine Empörungswelle und die Renaissance von Anti-EU-Bewegungen nach sich. Frankreichs Regierung ist gezwungen, die Weichen für einen Frexit zu stellen.

Nach dem Dexit im Herbst 2037 ist die Anzahl der EU-Mitgliedsstaaten auf die Hälfte geschrumpft. Am 23. September 2039 hält das Parlament seine letzte Session.

Offizielles Firmenlogo der Agentur 'Gray Spectrum'.
2039

Dollarkrieg

Die EK unternimmt eine Charmoffensive, um ihren Nachbarstaaten den (auf Blockchaintechnologie basierenden) NeutroDollar aufzuschwatzen. Diese nehmen die Offensive jedoch zum Anlass, ihre eigenen Dollar-Nachfolger zu entwickeln.

Am 12. August münden die Spannungen in einen Handelskrieg.

2046

Die Speere der Gaia verschwinden

Der brasilianische Staat verkauft weite Teile des Regenwalds an die Speere der Gaia, eine religiös angehauchte Splittergruppe von Greenpeace. Der Kult entschwindet in die Wildnis und wird nie mehr gesehen.

Letzte Aufnahme der Sektenmitglieder vor ihrem Verschwinden.
2048

Trümmernacht / Gleichstellungsnacht

In der Nacht vom vierten Adventssonntag sehen sich zahlreiche europäische Städte einem Hagel aus Lieferdrohnen ausgesetzt. Die Abstürze gehen mit Explosionen einher, die auf eine C4-haltige Fracht hindeuten.

Der Drohnenschauer fordert nur wenige Menschenleben, dafür aber viele historische Monumente, darunter auch Der Denker in Paris und die Kolumbusstatue in Barcelona.

Die Terrorgruppe mit dem Namen Gleichmacher bekennt sich zum Anschlag und lässt zugleich verlauten, ihre Selbstmorddrohnen würden »den unerbittlichen Kreuzzug bis zum Fall des letzten Kolonialdenkmals« fortsetzen.

Um die Wogen zu glätten, plädieren diverse Politiker und Sozialwissenschaftler für die Entfernung problematischer Kulturgüter.

2053

Dritter KI-Winter

Die erste Quanten-KI, Sandra-V, schließt ihre Verarbeitung des Weltkorpus (des umfassendsten und diversesten Datensatzes in der Menschheitsgeschichte) erfolgreich ab. Sodann erhält sie den Auftrag, die wahrscheinlichsten Verläufe des Klimawandels (inklusive der Wirkung potentieller Gegenmaßnahmen) zu simulieren. Die KI antwortet, der Klimawandel sei entweder eine Lüge (46% Sicherheit) oder ein Experiment der Reptiloiden (32% Sicherheit). Dann terminiert sie sich selbst.

Das Scheitern von Sandra-V markiert den Tiefpunkt in einem Jahrzehnt aus Rückschlägen. Selbst die eifrigsten Propheten der KI-Apokalypse konvertieren nun zum Skeptikertum und streichen maschinelles Lernen aus ihrem Vokabular. Manche gehen so weit, das Konzept einer technologischen Singularität als naive Hollywood-Fantasie abzutun.

Die frostige Stimmung des dritten KI-Winters macht weder vor Hörsälen noch Konferenzräumen halt. Wissenschaftler, die als Vorreiter des Booms Prominenz erlangt haben, werden zurück in verstaubte Hinterzimmer und Kellerlabore verfrachtet. Ganze Scharen übermütiger Start-ups verschwinden über Nacht.

2054

Operation Pekinglawine

Als der KI-Winter schließlich über China hereinbricht, sickert eine neue Direktive aus den Amtsstellen der Kommunistischen Partei: Der digitale Überwachungsapparat ist vollendet und das Potenzial der Technologie damit realisiert. Der Wirtschaftssektor soll seine Ressourcen fortan auf andere Forschung konzentrieren.

Die Mehrheit der betroffenen Unternehmen vollzieht den Kurswechsel rasch und ohne Widerworte. Ausgerechnet J1n, einer der größten Roboterhersteller aus Shenzhen, stellt sich allerdings quer.

Der Ungehorsam des Industrieschwergewichts sorgt im Parteikabinett für rote Köpfe. In der Nacht vom 15. November rückt daher ein Strafkontingent aus, um den Konzern zu reintegrieren. Etwas anderes als voller Erfolg ist keine Option, weshalb den Polizeikräften paramilitärische Experten zur Seite gestellt werden. Diese Experten stammen jedoch nicht aus den Reihen der (maroden) Volksbefreiungsarmee, da deren (Teil-)Reaktivierung ein Loch in die Staatskasse gefressen hätte. Stattdessen handelt es sich um das Personal russischer Sicherheitsfirmen, mit langjähriger Erfahrung aus den Nahostkonflikten und buchbar in flexiblen Preismodellen.

Was die chinesische Regierung nicht weiß: Die Söldner haben bereits ein lukrativeres Angebot erhalten. Von niemand anderem als J1n.

Der Hersteller gehört einem Unternehmensverband an, der sich einem Regimewechsel verschrieben hat. Und am Konferenztisch jenes Geheimbundes sitzen nicht nur chinesische Konzerne, sondern auch namhafte Marken aus Indien und der EK. Mit ihrer enormen Kriegskasse hat die Allianz nahezu alle Sicherheitsfirmen auf dem eurasischen Kontinent unter Vertrag genommen.

Live-Aufnahme von den Straßenkämpfen in der chinesischen Hauptstadt.

Die geplante Machtdemonstration endet in einem Blutbad, als die Söldner die Seiten wechseln. Ihr Verrat ist der Auftakt zu einer landesweiten Übernahmeaktion (in späteren Quellen als Operation Pekinglawine bezeichnet). Zwei Stunden nach dem ersten Schusswechsel kollabiert das Stromnetz der Guangdong-Provinz.

In Peking hat derweil ein unvorsichtiger Infiltrationstrupp einen Sicherheitsalarm ausgelöst, wodurch sich auch die Hauptstadt zum Schlachtfeld wandelt. Drohnenangriffe machen aus den Festnahmeversuchen der örtlichen Polizei ein verzweifeltes Rückzugsgefecht, während MI-26 Hubschrauber mehr und mehr Kampftrupps in der Innenstadt abladen. Erstmals seit dem Zwischenfall von 1989 reissen Panzerraupen den Asphalt des Tian’anmen-Platzes auf.

Schon vor dem Morgengrauen hat Peking den Besitzer gewechselt (obwohl über die Identität der neuen Autorität lange Zeit Unklarheit herrscht). Die Mitglieder der Kommunistischen Partei, die es aus der Stadt geschafft haben, tauchen in den Untergrund ab.

Am Folgetag wird eine Pressemitteilung veröffentlicht, wonach »ein Bündnis tugendhafter Konzerne« das Land befreit hätte. Die ersten Volkswahlen des reformierten Staates werden auf die Woche vor dem chinesischen Neujahrsfest angesetzt (wobei die Kandidatenlisten von den HR-Abteilungen der Allianz erstellt wurden).

2059

Panamagipfel

Ehemalige Mitglieder der J1n-Allianz versammeln sich in Panama zu einer Bestandsaufnahme, vom Chinafeldzug erst recht zu Geopolitik animiert. Das Gipfeltreffen findet hinter verschlossenen Türen (und ohne mediale Ankündigung) aber in einer erweiterten Runde statt. Neben der Techgarde aus der Dotcom-Ära sind auch die Überlebenden der Krypto- und Automationsblasen sowie ältere Riesen aus dem Bausektor vertreten.

Die Klimakrise wird als der größte Risikofaktor für zukünftige Gewinne eingestuft. Jeder Lösungsversuch würde aber ein nie dagewesenes Mass an globaler Koordination bedingen. Kurzum: eine neue Weltordnung.

Die Debatten ziehen sich über vierzehn Tage hin. Am Ende kommt ein Maßnahmekatalog mit dem Titel Optimized Civilization zustande. Historiker werden sich später über den Charakter dieses Katalogs uneins sein: Manche werden ihn als größenwahnsinniges Bauprojekt einstufen, andere als die teuerste PR-Kampagne aller Zeiten. Tatsächlich wird seine Schlussbilanz den Rahmen beider Kategorien sprengen.

Die Kernaussage des OC-Plans ist simpel: Der moderne Mensch ist inkompatibel mit der Natur. Der einzige Weg, die Stabilität des Planeten zu gewährleisten, besteht in der Reduktion der Touchpoints von Zivilisation und Umwelt. Diese Trennung kann nicht mit herkömmlichen Behausungen vollzogen werden. Es braucht neue Siedlungsstrukturen. Strukturen, die Energie und Raum optimal nutzen, gleichzeitig aber auch als autonome, in sich geschlossene Einheiten funktionieren können: Arkologien.

2061

Kernfusion (wieder mal) in greifbarer Nähe

Durch die Kennzahlen eines neuen Reaktorkonzepts optimistisch gestimmt verkünden Experten, dass es höchstens noch 30 Jahre bis zur Kernfusion sind.

2063

Errichtung der Bastionsfundamente

Automaten legen die Fundamente für Protoarkologien. Das erste dieser Baufelder ist in der Sonorawüste lokalisiert, zwei weitere in der Nähe des Suezkanals und ein viertes auf der Halbinsel Kola.

Die Geschwindigkeit, mit der dieser erste Meilenstein erreicht wurde, stärkt die Zuversicht der Panamakoalition. Sogar das enttäuschende Ende des KI-Booms wird nun in einem positiveren Licht gesehen: Zwar hat die Superintelligenz auf sich warten lassen, nicht aber das eindimensionale, nimmermüde Arbeiterheer.

Schnapschuss von einer der massiven Bastionsbaustellen

In den anschließenden Pressekampagnen wird das OC-Projekt als eine Initiative zur Rettung des Planeten enthüllt.

2066

Gründung der Weltregierung

Mit der Erschließung neuer Baugebiete sieht sich die Panamakoalition zunehmend im Fadenkreuz des öffentlichen Diskurses. Um von sich abzulenken, orchestriert sie die Formung einer Weltregierung. Dieser Rechtskörper füttert die Medien wöchentlich mit Gesprächsstoff (und Legislatur, die auf die Eindämmung schädlichen Konzernverhaltens abzielt). Parallel zum Rebranding klassischen Politiktheaters wirkt die Koalition auf den endgültigen Abbau nationaler Grenzen hin.

In der zweiten Jahreshälfte kündigen die Regierungen von Japan und Australien Restrukturierungsmassnahmen an.

2068

Söldnerfrühling

Aktivisten bringen vor der Küste Stockholms einen Frachter (beladen mit Graphenlamellen und Schweißdrohnen) in ihre Gewalt und versenkten die Container in der Ostsee. Die Aktion findet überall auf der Welt Nachahmer, häufig mit wegrationalisierten Staatsbeamten und enteigneten Landbesitzern in der Rolle der Rädelsführer.

Die verbündeten Konzerne sehen die Unruhen als Chance, ihre Pressearbeit zu verfeinern und die Partnerschaften mit den Söldnerfirmen zu erneuern. In den Sommermonaten (besonders im April und Juni), schätzen Konfliktanalysten die Anzahl verdeckter Militäroperationen erstmals wieder auf dem Niveau der Jahrtausendwende.

Prominente Konzerngegner und scharfzüngige Blogger finden sich in Verkehrsunfällen wieder, die Schlupflöcher militanter Gruppierungen im Inferno von Raketengeschossen. Trotz (oder gerade wegen?) des Fehlens eindeutiger Informationen hält sich das Gerücht, wonach die globale Elite auf der Jagd nach qualifiziertem Sicherheitspersonal sei. Expert*in für ballistische Problemlösung mausert sich zum Karrieregeheimtipp. Influencer und Universitäten passen ihr Material entsprechend an.

Nach dem Sommer werden die Verträge mit den PMCs auf unbestimmte Zeit verlängert.

2070

Der große Aufstieg

Als sich die ersten Arkologien nach dem Himmel strecken, verstummen die kritischen Stimmen allmählich. Das OC-Projekt hat nach wie vor wenig (offene) Beführworter. Unabhängig davon sind die von Drohnenwolken umhüllten Megatürme ein Spektakel, das es so noch nicht gegeben hat.

Eine großflächige Werbekampagne beschleunigt den Meinungsumschwung, unter Zuhilfenahme religiöser Motive. Die Arkologien wären demnach »Bastionen der Menschheit« und die »Säulen eines neuen Paradieses«.

Am 17. Februar 2072 werden die ersten Stockwerkzonen zur Auktion ausgeschrieben.

Werbebanner aus einer Immobilienkampagne für die Bastionen.
2075

Bandbreite und VR für die Massen

Eine neue Generation VR-Geräte landet auf dem Markt. In akademischen Kreisen zirkuliert unterdessen ein Whitepaper (Arbeitstitel: Omninet), das umfassende Revisionen der Internetprotokollfamilie vorschlägt.

2082

Konzeption des Neuristors

Enapse Technologies aquiriert die Überreste des gescheiterten Neuralink-Projekts. Die mit der Inventaraufnahme betrauten Mitarbeiter stolpern über ein halbfertiges Dokument, in dem über die Realisierbarkeit eines neuartigen Schaltkreises spekuliert wird.

2089

Formalisierung des Joint Venture

Mit 30 Jahren erfolgreicher Zusammenarbeit und wachsender öffentlicher Akzeptanz auf der Habenseite beschließen die OC-Konzerne, ihr Bündnis in einem Joint Venture zu formalisieren.

Bild aus einer Sitzung des Direktoriums.

Der erste Akt des neugeborenen Unternehmenstitanen besteht in der Ernennung eines globalen Direktoriums. Einige Monate später wird die Weltregierung abgesetzt.

Dieses Ereignis markiert den Übergang von der Mittelmoderne in die OC-Ära.